Die Stadt hat einen anderen Rhythmus an Sonntagen. Freie Straßen, leere Zentren. Schlafen, den chronischen Schlafmangel der Woche aufholen. Fiaca ist vielleicht das argentinische Wort, das die Sonntage am Besten beschreibt, eine Mischung aus Lust zum Nixtun; Faulheit, die man genießt.
Wir fahren mit den Rädern zur Estacion Once, einem der großen Bahnhöfe in der Stadt. Züge, die von hier aus Richtung Westen nach Gran Buenos Aires, den metropolitanen Großraum der Stadt fahren, sind dreckiger, älter als die Züge, die in die reicheren Stadtteile des Nordens fahren. Leute, die diese Züge nehmen, einfacher, ärmer.
Das Fahrradabteil ist immer das schäbigste. Keine Sitze, Türen die nicht schließen, ein paar Gestalten, die auf dem dreckigen Boden sitzen und Marihuana rauchen. Einer unserer Mitfahrer ist nur in den Zug eingestiegen, um bei jemandem ein paar Züge vom Joint zu ergattern, bei der nächsten Station steigt er aus und fährt wieder nach Hause. Dort hatte er nichts mehr zu rauchen und außerdem Langeweile.
Die Zugfahrt nach Merlo, einer Kleinstadt des Großraums, dauert etwa 45 Minuten und kostet 1 Peso nochwas, 20 Cent etwa. Der Nachmittag ist hübsch, warme Sonne. Wir parken unsere Fahrräder im Wagon und hängen uns in die offenen Türen, genießen den Fahrtwind oder setzen uns gegenüber auf den Boden und lassen die Stadt und die Landschaft wie in einem Film an uns vorüberziehen. Mariano hat seine Gitarre immer dabei, und macht Musik, spielt vom Anfang der Fahrt bis wir aussteigen. Im Abteil mischt sich das Klappern und Rattern des Zuges auf den Schienen mit Klängen argentinischer und spanischer Balladen, Manu Chao und Mundharmonika.
Die unwirtliche Stimmung im Abteil verwandelt sich in eine wunderschöne Zugfahrt, die verschlossenen Gesichter all der verschiedenen Gestalten erhellen sich, alle lauschen, beobachten den Sänger, singen leise mit, wippen mit den Füssen, genießen. Diese Musik verbindet alle die Menschen in diesem Abteil, unabhängig davon wie unterschiedlich sie sind. Wäre da nicht die gemeinsame Musik gewesen, hätten die Menschen in diesem Abteil wahrscheinlich nie einen Blick gewechselt, vielleicht ist dieser Moment im Zug ihre alleinige Gemeinsamkeit. Zwei Straßenverkäufer mit dreckigen, kaputten Klamotten sind besonders begeistert – welche Freude Musik machen kann. Straßenkinder steigen ein, sofort steuern sie auf Mariano zu und lauschen, lachen, scherzen mit ihm.
In Merlo, dem verschlafenen Städtchen angekommen, fahren wir zum Haus der Oma von Nacho und genießen die letzten lauen Sonnenstrahlen in ihrem Garten, einem Blumenmeer, den 3 Meter hohen Stümpfen eines einst riesigen Ombús, einem typischen Baum dieser Region. Nur 40 Jahre hat dieser Baum gebraucht um riesig zu werden, man kann es sich noch vorstellen, wie er aussah, bevor ihm seine Krone geraubt wurde. Sein Holz ist faserig und man kann es nicht zum Bauen oder Verabeiten benutzen, nichtmals zum Verbrennen, schimpft Nachos Onkel, der den ganzen Nachmittag im Garten herumwerkelt, Blumen schneidet, Gartenmöbel mit abgeblättertem Lack einen neuen Anstrich verleiht.
Hinten im Garten steht eine kleine Hütte, das Heiligtum von Nachos verstorbenem Opa, in der es nach alt und moderig riecht und die vollgestopft ist mit kleinen Schätzen. An den Wänden hängen alte Felle, alle möglichen Utensilien eines Gauchos, Instrumente, Fotos, natürlich von Carlos Gardel und unter anderem auch eines, als Maradona, der Maradona mal in genau diesem Rancho, dieser Hütte gegessen hat. In der Ecke ein Kamin, auf dem wir später in einer gusseisernen Pfanne auf dem Feuer Essen machen. Der größte Schatz der Hütte aber ist ein uraltes Grammophon, was einwandfrei funktioniert und die liebevoll sortierte Plattensammlung des Abuelos. Wir lauschen den knisternden Tangos von Carlos Gardel aus dem Grammophon und ich fühle mich wie in einer anderen Welt.
Ein Sonntag in Buenos Aires.